Daido Moriyama | A Retrospective
Bildband des Monats/Photo book of the month
In dieser Kolumne stelle ich von Zeit zu Zeit einen Bildband vor, welcher mir sehr am Herzen liegt. Dabei handelt es sich nicht – oder nicht zwangsläufig – um eine Neuerscheinung. Es ist einfach ein Buch, welches mir irgendwie in die Hände gefallen ist und das ich Anderen gerne nahelegen möchte.
In this column I present from time to time a photo book that is very close to my heart. It is not – or not necessarily – a new release. It is simply a book that somehow came into my hands and that I would like to suggest to others.
Juli/July 2023 – Daido Moriyama | A Retrospektive
Nachdem ich nun eine Serie von fünf Beiträgen zu Pionieren der künstlerischen Farbfotografie gemacht habe, folgen in den kommenden Monaten ein paar recht harte Schwenks. Der erste Schwenk ist allein dadurch sichtbar, dass die Farbe in den Bildern verschwunden ist. Ich wende mich also einem Fotografen zu, der für seine Schwarzweiß-Bilder bekannt ist. Im Fall von Daido Moriyama muss man schwarz-weiß auch recht wörtlich nehmen, aber dazu später mehr.
Natürlich ist schwarz-weiß nicht das alleinige – und auch nicht das wichtigste – Markenzeichen von Daido Moriyama. Er ist eine Legende der Straßenfotografie und hat dieses Genre maßgeblich geprägt. Seine radikale Bildsprache hatte und hat bis heute jedoch weit darüber hinaus einen großen Einfluss auf die zeitgenössische Fotografie – nicht nur in Japan.
Now that I’ve done a series of five posts on pioneers of artistic colour photography, some pretty hard swings will follow in the coming months. The first swing is visible just by the fact that the colour in the pictures has disappeared. So, I turn to a photographer known for his black and white images. In Daido Moriyama’s case, black and white must also be taken quite literally, but more on that later.
Of course, black and white is not the sole – nor the most important – trademark of Daido Moriyama. He is a legend of street photography and has significantly influenced this genre. However, his radical visual language had and still has a great influence on contemporary photography – not only in Japan.
Über Daido Moriyama/About Daido Moriyama
Hart, unscharf und brillant. Mit diesen drei Begriffen könnte man versuchen, die Fotografie des Daido Moriyama zu umschreiben. Und man läge nicht so weit daneben damit. Andererseits: wie abstrus und vereinfacht wäre es, nur darauf ein mittlerweile mehr als sechzigjähriges Schaffen dieses großen Fotografen zu reduzieren. Also erstmal von vorne…
1938 in Osaka/Japan geboren, fand Moriyama schon in jungen Jahren zur Fotografie. Im Alter von 22 Jahren lernte er dort zunächst bei Iwamiya Takeji das fotografische Handwerk, bevor er ab 1961 in Tokio Assistent des Fotografen und Filmemachers Eikoh Hosoe wurde. Bereits ab 1964 arbeitete Moriyama dann als unabhängiger Fotograf für einige recht einflussreiche japanische Fotomagazine. Ein sehr entscheidender Schritt war dann 1969 die Arbeit für das Magazin Provoke, zu dessen zweiter Ausgabe er dazustieß.
Harsh, blurred and brilliant. One could try to describe Daido Moriyama’s photography with these three words. And one wouldn’t be too far off the mark. On the other hand, how abstruse and simplified it would be to reduce the work of this great photographer, which has now spanned more than sixty years, only to these three terms. So, let’s start from the beginning…
Born in Osaka/Japan in 1938, Moriyama found his way to photography at a young age. At the age of 22, he first learned the photographic craft with Iwamiya Takeji, before becoming an assistant to the photographer and filmmaker Eikoh Hosoe in Tokyo from 1961. As early as 1964, Moriyama then worked as an independent photographer for some quite influential Japanese photo magazines. A very decisive step was then the work for the magazine Provoke in 1969, where he joined the second issue.
Der Beginn mit Provoke/The beginning with Provoke
1969 lernte Daido Moriyama die beiden Künstler Tadanori Yokoo and Takuma Nakahira kennen, welche seinerzeit das Magazin Provoke gründeten. Vor allem mit Nakahira verband Daido Moriyama zeitlebens bis zu dessen Tod 2015 eine sehr enge Freundschaft. Auch wenn es zwischen 1968 und 1969 lediglich drei Ausgaben des Magazins Provoke gab, hatte es einen sehr großen Einfluss auf die japanische Fotografie. Provoke war nicht nur ein Magazin, sondern ein Kollektiv, dessen Mitglieder politisch und gesellschaftskritisch motiviert waren.
Die frühen 60er Jahre in Japan waren nicht nur geprägt vom noch nicht so weit vergangenen zweiten Weltkrieg, sondern von vielen aktuellen politischen Spannungen. Beispiele sind die Rolle der USA in Japan, der Vietnamkrieg oder die traditionell-konservative japanische Gesellschaft. Es gab Themen genug, mit denen sich auch die Kunst auseinandersetzen konnte.
Die Bilder des Magazins waren für damalige Verhältnisse – besonders im eher konservativen Japan – absolut provozierend und in dieser Form wirklich auch fotografisches Neuland.
Ich wollte das Ende der Fotografie erreichen.
Daido Moriyama
In 1969, Daido Moriyama met the two artists Tadanori Yokoo and Takuma Nakahira, who founded the magazine Provoke at the time. Especially with Nakahira, Daido Moriyama had a very close friendship throughout his life until Nakahira’s death in 2015. Even though there were only three issues of Provoke magazine between 1968 and 1969, it had a very great influence on Japanese photography. Provoke was not just a magazine, but a collective whose members were politically and socio-critically motivated.
The early 1960s in Japan were not only marked by the Second World War, which was not so far in the past, but also by many current political tensions. Examples are the role of the USA in Japan, the Vietnam War or the traditionally conservative Japanese society. There were enough topics that art could also deal with.
The magazine’s pictures were absolutely provocative for the time – especially in the rather conservative Japan – and in this form they were really new photographic territory.
I wanted to go to the end of photography.
Daido Moriyama
Moriyama im Wandel der Zeit/Moriyama through the ages
Diese frühe, durchaus politische Zeit war sicher sehr prägend für Daido Moriyama und seine Fotografie. Nur sind über 60 Jahre Fotografie in Summe einfach mehr als die Fortführung einer ersten Phase. Es gab in seiner Karriere viele verschiedene Phasen des radikalen Experimentierens, des Wandels, des Zweifels und damit einhergehend auch größere Schaffenskrisen. Da ich hier keine Biografie über Moriyama schreibe, belasse ich es bei diesen kurzen Andeutungen.
Gerade aus diesem Grund ist das vorliegende Fotobuch ideal. Es zeigt und beschreibt eben all diese Phasen sehr eindrucksvoll.
This early, thoroughly political period was certainly very formative for Daido Moriyama and his photography. It’s just that more than 60 years of photography is simply more than the continuation of a first phase. In his career, there were many different phases of radical experimentation, change, doubt and, as a result, major creative crises. Since I am not writing a biography of Moriyama here, I will leave it at these brief hints.
For this very reason, this photo book is ideal. It shows and describes all these phases very impressively.
Filmdokumentation über Daido Moriyama/Film documentary on Daido Moriyama
Wer sich noch mehr für die Person Daido Moriyama interessiert, dem sei diese Dokumentation ans Herz gelegt. Vordergründig handelt sie vom Entstehen der Neuauflage seines legendären Buches “Japan, A Photo Theater” für die Paris Photo 2018 – fünfzig Jahre nach dem Erscheinen der Originalausgabe. Aber sie ist zugleich ein recht intimes Portrait des Fotografen, der dort selbst oft zu Wort kommt und aus seinem Leben erzählt.
For those interested in Daido Moriyama as a person, this documentary is highly recommended. At first glance, it is about the production of the new edition of his legendary book “Japan, A Photo Theater” for Paris Photo 2018 – fifty years after the original edition was published. But at the same time, it is a rather intimate portrait of the photographer, who himself often has his say and talks about his life.
A Retrospektive
Prolog/Prologue
Das Fotobuch “Daido Moriyama | A Retrospective” ist im Prinzip eine Art Ausstellungskatalog. Zu dieser Ausstellung schreibe ich weiter unten dann noch etwas. Aber ich stelle es hier als Fotobuch vor und nicht als Katalog – denn es könnte natürlich auch ohne diese Ausstellung so entworfen worden sein. Viel wichtiger ist, dass es einen wunderbaren Einblick in die verschiedenen Schaffensphasen von Moriyama gewährt.
The photo book “Daido Moriyama | A Retrospective” is basically a kind of exhibition catalogue. I’ll write something more about that exhibition below. But I’m presenting it here as a photo book and not as a catalogue – because it could of course have been designed that way even without this exhibition.
Der Provokateur/The provocateur
Ich kann mir vorstellen, dass vor allem Leute, die sein Werk nicht so gut kennen, hier und da doch ziemlich verwirrt sein werden von einigen Bildern. Denn Morixama war und ist nicht nur ein gesellschaftlicher Provokateur, der meist die sogenannten Randgruppen der Gesellschaft in ihren Straßen und Häusern fotografiert hat. Er hat auch mit dem Medium Fotografie selbst sehr stark gespielt.
Besondern die stark experimentellen Bilder – oder sollte ich besser sagen: Bildfragmente? – kennt man vielleicht weniger als seine berühmteren Straßenszenen. Extreme Teilvergrößerungen, Mehrfachbelichtungen, zerkratzte Negative, heftigstes Korn, wilde Collagen und einiges mehr zeugen von dieser Phase, die weit über die Zeit mit und bei Provoke hinausging.
I can imagine that especially people who don’t know his work that well will be quite confused by some of the pictures here and there. For Moriyama was and is not only a social provocateur who mostly photographed the so-called fringe groups of society in their streets and houses. He also played very much with the medium of photography itself.
In particular, the strongly experimental images – or should I say image fragments? – are perhaps less familiar than his more famous street scenes. Extreme partial blow-ups, multiple exposures, scratched negatives, the most extreme grain, wild collages and much more bear witness to this phase, which went far beyond the time with and at Provoke.
Ein Leben für und mit der Straßenfotografie/A life for and with street photography
Wer mit heute 84 Jahren noch immer mit der Kamera – und sei es nun eine winzige Digitalkamera – durch die Straßen Japans läuft, muss besessen sein. Daido Moriyama war sein ganzes Leben lang Fotograf und ist es immer noch. Er ist ein Fotograf, der das Visuelle und das Experimentelle manchmal ziemlich bis an die Grenzen getrieben hat. So weit, dass die reine Fotografie manchmal nicht mehr klar zu erkennen war. Aber er war Zeit seines Lebens auch Straßenfotograf.
Das erste, was ich jedem sage, der mich um Rat fragt, ist: “Geh nach draußen”.
Daido Moriyama
Ich muss gestehen, dass mich persönlich dieser Teil seines Werkes bei weitem am meisten anspricht. Das nicht nur aufgrund des dokumentarischen Wertes, sondern auch aufgrund der radikalen Fotografie. Auch diese Straßenszenen sind oft hart, unscharf und brillant. Schwarz und Weiß scheinen manchmal fast die einzigen Töne zu sein. Die Schnitte sind ebenso brutal wie das Korn und das Licht. Aber das macht die Fotografie des Daido Moriyama eben aus.
Anyone who, at 84 years old today, still walks the streets of Japan with a camera – even now a tiny digital camera – must be obsessed. Daido Moriyama has been a photographer all his life and still is. He is a photographer who has sometimes pushed the visual and the experimental quite to the limit. So far that pure photography was sometimes no longer clearly recognisable. But he was also a street photographer all his life.
The first thing I always tell anyone who asks me for advice is: “Get outside”.
Daido Moriyama
I must confess that this part of his work appeals to me personally by far the most. Not only because of its documentary value, but also because of its radical photography. These street scenes are also often harsh, blurred and brilliant. Black and white sometimes seem almost the only tones. The cuts are as brutal as the grain and light. But that is what makes the photography of Daido Moriyama.
Der Bildband/The Photo Book
Wie bereits erwähnt, ist das Fotobuch eine Art Katalog – allerdings nicht in dem Sinne, dass die einzelnen Bilder dort nur klein abgebildet sind. Alle Bilder sind formatfüllend und ohne Text jeweils auf einer Seite des Buches gedruckt – auf schwerem, mattem Papier. Etwas gewöhnungsbedürftig ist hier vielleicht, dass man für die Aufnahmen im Querformat das Buch drehen muss, auch diese dann eben auch in voller Größe 90 Grad gedreht abgedruckt sind.
As already mentioned, the photo book is a kind of catalogue – but not in the sense that the individual pictures are only shown there in small format. All the pictures are printed in full format and without text on one page of the book on heavy, matt paper. It may take some getting used to that you have to turn the book for the pictures in landscape format, which are then also printed in full size rotated 90 degrees.
Das klingt jetzt schlimmer als es ist… dafür sind die Bilder wirklich pur, konzentriert und direkt – und das Wesentliche in diesem Buch. Es ist damit von der Ästhetik (des Buches, nicht der Bilder) vielleicht nicht mein absoluter Favorit, aber trotzdem ein tolles und schönes Fotobuch. Und der Inhalt ist wirklich faszinierend.
That sounds worse than it is. And for that, the pictures are really pure, concentrated and direct – and the essence of this book. The aesthetics (of the book, not the pictures) may not be my absolute favourite, but it is still a great and beautiful photo book. And the content is really fascinating.
Ach ja, wie in der Ausstellung gibt es einen kleinen Bereich mit neueren und älteren Farbbildern von Moriyama. Diese sind aber ganz klar die absolute Minderheit.
Oh yes, as in the exhibition, there is a small section with newer and older colour pictures by Moriyama. But these are clearly the absolute minority.
Und wiederum wie in der Ausstellung kommt ein begleitender, das Werk erläuternder Teil nicht zu kurz – hier komplett am Ende des Buches.
And again, as in the exhibition, an accompanying section explaining the work is not neglected – here completely at the end of the book.
Die Ausstellung/The Exhibition
Es gibt noch einen weiteren guten Grund, warum ich gerade jetzt dieses Fotobuch vorstelle. Dieses Buch ist nämlich begleitend zur Ausstellung “Daido Moriyama – Retrospective” erschienen. Die Ausstellung tourt nun um die Welt und ist in ihrer erst zweiten Station aktuell im C|O Berlin zu sehen, wo sie noch bis zum 07. September verbleibt. Zumindest für die Fotobegeisterten aus Berlin oder generell aus Deutschland/Polen/etc. besteht also die Möglichkeit, diese Ausstellung noch zu besuchen. Nach einiger Suche ist es mir dann auch gelungen, auf dieser Seite das weitere Programm der Tour zu finden. Das Instituto Moreira Salles hat diese Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Daido Moriyama Foundation erstellt.
There is another good reason why I am presenting this photo book right now. This book was published to accompany the exhibition “Daido Moriyama – Retrospective”. The exhibition is now touring the world and can currently be seen in its second stop at the C|O Berlin, where it will remain until 7 September. So at least for photo enthusiasts from Berlin or Germany/Poland/etc. in general, there is still a chance to visit this exhibition. After some searching, I managed to find the rest of the tour programme on this page. The Instituto Moreira Salles created this exhibition in collaboration with the Daido Moriyama Foundation.
Also, nutzt die Chance… es lohnt sich wirklich sehr! Ich war letzte Woche dort und sie ist wirklich sehr gut. Vor allem die Wände mit den großen und großartig zusammengestellten Bildern sind äußerst beeindruckend.
So, take the chance… it’s really worth it! I was there last week, and it is really very good. Especially the walls with the big and great put together pictures are extremely impressive.
Abschließende Worte/Final words
Es fällt mir ein wenig schwer, abschließende Worte zu diesem Buch über das Werk von Daido Moriyama zu finden. Wie der Titel schon sagt, ist es ja nicht einfach eines seiner zahlreichen Fotobücher, sondern eine Retrospektive. Und das hat natürlich bei einem Fotografen, der jetzt schon länger fotografiert als ich überhaupt lebe, schon ein ziemliches Gewicht. Mir ist schon beim Schreiben dieses Beitrags aufgefallen, dass ich extrem aufpassen musste, nicht zu weit auszuholen. Und es ist mir auch nicht immer gelungen – zu breit und bewegend ist dieses riesige Portfolio von Moriyama.
Also fasse ich mich kurz. Wer für diese Art der etwas radikaleren (Straßen)Fotografie etwas übrig hat, wird begeistert sein. Das Buch und die Ausstellung sind wirklich eine tolle verkürzte Zusammenfassung seines Schaffens. Es lohnt sich sehr, sich damit tiefer zu beschäftigen…
It is a little difficult for me to find concluding words about this book on the work of Daido Moriyama. As the title suggests, it is not simply one of his numerous photo books, but a retrospective. And that, of course, holds quite a bit of importance for a photographer who has been taking pictures longer than I’ve even been alive. I already noticed while writing this post that I had to be extremely careful not to go too far. And I didn’t always succeed – Moriyama’s huge portfolio is too broad and moving.
So, I’ll be brief. Anyone who is into this kind of somewhat more radical (street) photography will be thrilled. The book and the exhibition are really a great condensed summary of his work. It is very worthwhile to look into it more deeply…
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