Klaus Pichler/Clemens Marschall | Golden Days Before They End
Bildband des Monats/Photo book of the month
In dieser Kolumne stelle ich von Zeit zu Zeit einen Bildband vor, welcher mir sehr am Herzen liegt. Dabei handelt es sich nicht – oder nicht zwangsläufig – um eine Neuerscheinung. Es ist einfach ein Buch, welches mir irgendwie in die Hände gefallen ist und das ich Anderen gerne nahelegen möchte.
In this column I present from time to time a photo book that is very close to my heart. It is not – or not necessarily – a new release. It is simply a book that somehow came into my hands and that I would like to suggest to others.
Oktober/October 2023 – Klaus Pichler/Clemens Marschall | Golden Days Before They End
Diesen Monat schreibe ich über ein Buch, was ich (noch) gar nicht besitze. Das Buch ist nämlich eine Leihgabe von Steffi, einer angehenden Fotografin aus Bonn. Sie hat es mir geliehen, verbunden mit der Frage, ob ist es nicht vielleicht hier besprechen möchte – was ich hiermit auch tue. Und das tue ich gerne…
Es ist auch, wenn man sich drauf einlässt, ein wirklich besonderes und sehr lohnendes Fotobuch. Ich wundere mich nur, dass es mir nicht schon früher über den Weg gelaufen ist.
This month I’m writing about a book I don’t (yet) own. The book is on loan from Steffi, a student photographer from Bonn. She lent it to me and asked me if I would like to discuss it here – which I do. And I am happy to do so…
It is also, if you get into it, a really special and very rewarding photo book. I’m just surprised that it hasn’t crossed my path before.
Über Pichler & Marschall/About Pichler & Marschall
Klaus Pichler
Klaus Pichler, geboren 1977 in Judenburg/Österreich, ist ein österreichischer Fotograf. Berühmt geworden ist er für einige recht Aufsehen erregende freie Arbeiten, in denen er häufig sehr feinsinnig versteckte Details unseres Soziallebens dokumentiert hat. Ansonsten mache ich es mir so einfach wie er und zitiere ebenfalls ChatGPT:
“Klaus Pichler ist ein Fotograf aus Wien, Österreich, der für seine konzeptionellen Fotoserien bekannt ist, die sich mit ökologischen und kulturellen Themen befassen. Seine Arbeiten verbinden oft Ironie mit einer kritischen Perspektive und behandeln Themen wie Konsumverhalten, Abfall und die Auswirkungen des menschlichen Verhaltens auf die Umwelt. Pichlers Stil zeichnet sich durch einen starken visuellen Erzählansatz und seine Fähigkeit aus, gewöhnliche, oft übersehene Themen in eindrucksvolle Bilder zu verwandeln, die Gespräche über wichtige Themen anregen. Er verwendet eine Vielzahl von Techniken, darunter Makrofotografie, Stillleben und Fotojournalismus, um Bilder zu schaffen, die sich durch Detailreichtum, Komposition und Farbe auszeichnen.”
Klaus Pichler, born 1977 in Judenburg/Austria, is an Austrian photographer. He has become famous for some quite sensational free works in which he has often very subtly documented hidden details of our social life. Otherwise, I’ll make it as easy for myself as he does and also quote ChatGPT:
“Klaus Pichler is a photographer from Vienna, Austria, known for his conceptual photo series that address environmental and cultural issues. His work often blends irony with a critical perspective, addressing topics such as consumerism, waste, and the impact of human behaviour on the environment. Pichler’s style is characterized by a strong visual storytelling approach and his ability to turn ordinary, often overlooked subjects into striking images that spark conversations about important issues. He uses a variety of techniques, including macro photography, still life, and photojournalism, to create images that are characterized by a rich attention to detail, composition, and colour.”
Clemens Marschall
Clemens Marschall, 1985 im österreichischen Ried geboren, ist ein österreichischer Musikwissenschaftler, Autor und freier Journalist, unter anderem auch für die deutsche Wochenzeitung “Die Zeit”. Er ist zudem Mitherausgeber des Magazins “Rokko´s Adventures” und gilt einigen als einer der besten (Sub-)Kulturjournalisten Österreichs.
Clemens Marschall, born in 1985 in Ried, Austria, is an Austrian musicologist, author and freelance journalist, among others for the German weekly newspaper “Die Zeit”. He is also co-editor of the magazine “Rokko’s Adventures” and is considered by some to be one of Austria’s best (sub-)cultural journalists.
Golden Days Before They End
Prolog/Prologue
“Golden Days Before They End” ist kein ausgesprochen typisches Fotobuch für mich. Fotografisch bin ich meist eher ein ganz klein wenig weniger “drastisch” unterwegs. Allerdings ist die Fotografie dort dann auch wieder nicht so weit von den Dingen entfernt, die mich fotografisch interessieren. Mein Interesse für Martin Parr, Richard Billingham oder auch die neulich hier vorgestellte Peggy Nolan zeugen davon.
Was mich aber an diesem Buch zusätzlich fasziniert, ist etwas anderes als die reine Fotografie: es ist der dokumentarische Wert. Pichler und Marschall haben mit “Golden Days Before They End” etwas festgehalten, das es schon sehr bald so nicht mehr geben wird. Streng genommen gibt es das schon heute – das Buch ist von 2016 und die Autoren sind zuvor vier Jahre lang durch die Kneipen gestreift – so kaum noch. Wahrscheinlich hat man selten ein recht verbreitete “Kulturform” so schnell verschwinden sehen. Pichler (Fotos) und Marschall (Text) singen hier visuell und textlich einen eindrucksvollen Abgesang auf die klassische Eckkneipe – in dem Fall die sogenannten “Beisl” und “Tschocherl” in Wien.
“Golden Days Before They End” is not a very typical photo book for me. Photographically, I tend to be a little less “drastic”. However, the photography there is then again not so far away from the things that interest me photographically. My interest in Martin Parr, Richard Billingham or Peggy Nolan, who was recently introduced here, are testimony to this.
But what fascinates me about this book is something other than the pure photography: it is the documentary value. With “Golden Days Before They End”, Pichler and Marschall have captured something that will very soon no longer exist. Strictly speaking, it hardly exists any more – the book is from 2016 and the authors roamed the pubs for four years beforehand. It’s probably rare to see a fairly widespread “cultural form” disappear so quickly. Pichler (photos) and Marschall (text) sing here visually and lyrically an impressive farewell to the classic corner pub – in this case the so-called “Beisl” and “Tschocherl” in Vienna.
Saufkultur oder zweite Heimat?/Booze culture or second home?
Fangen wir mal mit dem ersten Elefanten im Raum an: diesen besonderen Kneipen als solche. Welche Art von “Kultur” haben Pilcher und Marschall da eigentlich dokumentiert? Welchen Wert haben diese Orte? Wofür stehen sie (vermeintlich) und wie soll man selbst dazu stehen?
Ich beantworte die beiden letzten Fragen einfach mal sehr pragmatisch: ich habe das nicht zu bewerten! Punkt. Jeder und jede darf sich gerne selbst seine Gedanken darüber machen, wie er oder sie persönlich zur recht heftigen Sauferei oder zur Kettenraucherei in solchen Kneipen steht. Nur ein Urteil über die Menschen, die das so machen oder machten, sollte sich jeder verkneifen. Das steht niemandem zu.
Wem das schwerfällt sollte sich die Bilder in dem Buch mal genauer ansehen. Klar sind auch verstörende Szenen dabei, vielleicht peinliche, manchmal gewalttätige und oft wenig klassisch ästhetische. Aber es sind auch zutiefst menschliche Szenen einer Gemeinschaft, die sich dafür entschieden hat, eine zu sein. Also egal ob Saufkultur oder zweite Heimat – es ist OK so wie es ist.
War ich jemals in solchen Kneipen? Eher selten. Das macht die Bilder nur noch interessanter. Ich muss diese Soziotope auch nicht verstehen – ich muss sie nur als solche respektieren.
Let’s start with the first elephant in the room: these particular pubs as such. What kind of “culture” have Pilcher and Marshall actually documented there? What value do these places have? What do they (supposedly) stand for and how should one relate to them oneself?
I’ll simply answer the last two questions very pragmatically: I don’t have to judge that! Period. Everyone is free to make up his or her own mind about how he or she personally feels about the rather heavy drinking or chain smoking in such pubs. But everyone should refrain from judging the people who do or did this. That is no one’s right.
Those who find this difficult should take a closer look at the pictures in the book. Sure, there are disturbing scenes, perhaps embarrassing, sometimes violent and often not classically aesthetic. But there are also deeply human scenes of a community that has chosen to be one. So whether it’s booze culture or second home – it’s OK the way it is.
Have I ever been in such pubs? Rather rarely. That simply makes the pictures even more interesting. I don’t have to understand these sociotopes either – I just have to respect them as such.
Kunst, Dokumentation oder Voyeurismus?/Art, documentation or voyeurism?
Damit kommen wir gleich zum zweiten Elefanten: ist das denn wirklich Kunst, oder wenigstens Fotografie? Hm, Fotografie ist es in jedem Fall, es sind ja Fotos. Wie anfangs bereits erwähnt empfinde ich den dokumentarischen Wert ebenfalls als sehr relevant. Und Kunst, tja, die liegt sowieso immer im Auge des Betrachters.
Aber im Ernst… was ich damit meine sind natürlich manche Kommentare zu solchen und – wieder vermeintlich – ähnlichen Arbeiten. Ich erinnere mich da zum Beispiel an recht viele eher abschätzige Kommentare zu Richard Billinghams “Ray’s a Laugh” – und ich meine hier nur die rein fotografisch abschätzigen. Sowas wie “kann ja jeder” und “hat mein Vater im Fotoalbum auch” waren da noch die eher freundlichen Bemerkungen. Wie gesagt, Kunst… aber darüber will ich hier auch gar nicht reden. Das wäre vielleicht mal ein Thema für einen eigenen Beitrag dazu.
Ich möchte im nächsten Abschnitt eher auch die fotografisch-gestalterische Arbeit von Klaus Pilcher loben – und diese ist auch sehr verschieden zu z.B. Richard Billingham. Ebenso will ich da auch die Textpassagen aus den Interviews mit den Wirtinnen und Wirten von Clemens Marschall hervorheben.
This brings us to the second elephant: is it really art, or at least photography? Well, it’s photography in any case, because it’s photos. As I mentioned at the beginning, I also find the documentary value very relevant, and art, well, that’s always in the eye of the beholder.
But seriously… what I mean by that are of course some comments on such and – again supposedly – similar works. I remember, for example, quite a few rather disparaging comments on Richard Billingham’s “Ray’s a Laugh” – and here I only mean the purely photographic disparaging ones. Something like “anyone can do it” and “my father has that in his photo album, too” were the rather friendly remarks. As I said, art… but that’s not what I want to talk about here. That might be a topic for a separate post on it.
In the next section I would like to praise the photographic work of Klaus Pilcher – which is also very different from that of Richard Billingham, for example. I also want to emphasise the text passages from the interviews with the innkeepers by Clemens Marschall.
Eine Bühne für jeden und jede/A stage for everyone and anyone
Genug der ein bisschen nachdenklich fragenden Gedanken. Jetzt ist es an der Zeit, den Fotografen Klaus Pilcher und den Texter Clemens Marschall für ihr Werk zu würdigen. Denn beide schaffen es mit ihren Mitteln und in ihrem Bereich, den Protagonist:innen ihrer Bilder und Geschichten eine gebührende Bühne zu bieten.
Klaus Pilcher hat nicht nur einfach aus der Ferne draufgehalten. Er war mit Kamera und Blitz nah und sehr direkt dran. In vielen der Bilder wird nicht einfach eine zufällige Szene in einer Kneipe abgelichtet – womöglich noch heimlich und versteckt. Nein, die Fotografierten inszenieren sich meist selbst auf den Fotos. In aller Ehrlichkeit und manchmal auch Schwäche und Verletzlichkeit. Das gibt den Bildern und den Menschen eine gewisse Würde und führt sie nicht vor – was man schnell denken könnte.
Die Zitate aus den Interviews von Clemens Marschall wiederum helfen uns – also zumindest mir – das gesehene in den Bildern besser einzuordnen. Wirklich kennen tue ich diese Welt ja nicht und was das gesagt wird, erklärt so einiges in dieser Welt. Die Gesetze, die Probleme, aber auch die Gemeinschaft und die Ersatzfamilie werden dort ausführlich in sehr vielen Zitaten direkt erklärt.
Enough of the somewhat reflective and questioning thoughts. Now it is time to pay tribute to photographer Klaus Pilcher and lyricist Clemens Marschall for their work. For both manage, with their means and in their field, to offer the protagonists of their pictures and stories a fitting stage.
Klaus Pilcher didn’t just shoot from a distance. He was close and very direct with his camera and flash. In many of the pictures, it is not just a random scene in a pub that is photographed – possibly secretly and hidden. No, the people photographed usually stage themselves in the photos. In all honesty and sometimes also weakness and vulnerability. This gives the pictures and the people a certain dignity and does not show them off – which one could easily think.
The quotes from Clemens Marschall’s interviews, on the other hand, help us – at least me – to better understand what we see in the pictures. I don’t really know this world and what is said explains a lot in this world. The laws, the problems, but also the community and the substitute family are explained there in detail in very many quotations directly.
Der Bildband/The Photo Book
“Golden Days Before They End” von Pichler und Marschall ist erschienen in der Edition Patrick Frey. Das gebundene Buch umfasst 120 Fotografien auf 250 Seiten. Die Qualität des Drucks wie auch generell des Buches empfinde ich als sehr gut und wertig. Interessant gemacht sind die Textpassagen, die auf dünnerem – fast zeitungsartigem – Papier an vier Stellen im Buch die Bildteile unterbrechen.
Ansonsten gibt es aber keine direkten Informationen zum Projekt oder zum Buch, nicht einmal ein Impressum. 😉 Allerdings findet man in Netz durchaus einige Artikel dazu sowie auch Interviews mit den Autoren.
“Golden Days Before They End by Pichler and Marschall is published by Edition Patrick Frey. The hardcover book contains 120 photographs on 250 pages. I find the quality of the printing and the book in general to be very good and of high quality. The text passages are interestingly done on thinner – almost newspaper-like – paper, interrupting the picture parts in four places in the book.
Apart from that, there is no direct information about the project or the book, not even an imprint ;-). However, you can find some articles about it on the web as well as interviews with the authors.
Abschließende Worte/Final words
Kurz gefasst: Pichler und Marschall haben hier ein Fotobuch geschaffen, was wirklich großartig eine Welt im Verschwinden zeigt. Ich wüsste sehr gerne, wie in 30 Jahren oder so junge Leute auf diese Bilder reagieren werden. Ich kann mich ja zumindest an solche Kneipen noch erinnern, an eine Zeit ohne Rauchverbot und einiges mehr. Im Jahr 2063 wird das wahrscheinlich so aussehen, als seien diese Bilder auf einem anderen Planeten entstanden.
I’ll be brief: Pichler and Marschall have created a photo book here that really shows a world in the process of disappearing. I would love to know how young people will react to these pictures in 30 years or so. At least I can still remember pubs like this, a time without a smoking ban and a lot more. In 2063, it will probably look as if these pictures were taken on another planet.
Ein bisschen Fotogeschichte/A bit of photographic history
In dieser Hinsicht unterscheidet sich dieses Buch meiner Meinung nach interessanterweise ein wenig von einem, welches manchmal als “Vorbild” genannt wird – was inhaltlich ja nicht ganz von der Hand zu weisen ist: Anders Petersens “Café Lehmitz”. Ich glaube, ich werde noch lange darüber nachdenken müssen, warum ich seine Aufnahmen aus den Jahren 1968 und folgende nicht so fremdartig ansehe, wie ich es in nur 30 Jahren für die Bilder von Pichler vermute.
In this respect, I find this book interestingly different from one that is sometimes cited as a “role model” – which cannot be completely dismissed in terms of content: Anders Petersen’s “Café Lehmitz”. I think I will have to think for a long time about why I don’t regard his photographs from 1968 and the following as being as strange as I suspect Pichler’s pictures to be in only 30 years’ time.
Wie erwähnt sollte man aber auch die fotografische Seite dieses Werkes nicht unterschätzen. Um das nochmal zu betonen, erinnere ich hier nochmal an das Bild, welches ich für meinen Titel ausgesucht habe. Einfach großartig, in und auf so vielen Ebenen!
As I mentioned, however, one should not underestimate the photographic side of this work. To emphasise this again, I remind you here of the picture I chose for my title. Simply magnificent, in and on so many levels!
So, Ende der Geschichte… 😉
So, end of story… 😉
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